Gruppentherapie und die Facetten des „ad greddi“ |
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Stockert Michael am 27.1.2017 | |
27 Jan
Ich möchte mit einer - stark verfremdeten - Fallvignette beginnen und dann einige theoretische Überlegungen zu Aspekten der positiven Aggression in der Gruppe anstellen: Carla ist 29 Jahre alt und seit mehreren Jahren in der Gruppe, sie leidet seit geraumer Zeit an einer schweren Depression, die zu einem Gutteil mit dem nicht beachtet werden als kleines Kind zu tun hat. Sie ist gerne in der Gruppe, meldet sich jedoch eher wenig und wenn dann nur kurz zu Wort, sitzt oft abendelang da und lässt den anderen Gruppenmitgliedern den Vortritt. Als bisherigen Gewinn der Gruppenarbeit sieht sie es an, dass sie sich freier in der Gruppe ausdrücken kann und dass sie sich von den anderen Gruppenmitgliedern respektiert fühlt. Nach einer längeren Absenz von der Gruppe während der sie ihr bescheidenes Befinden schon kundgetan hat, zeigte sich Carla in ganz neuer Art und Weise: Die Gruppe begann mit einer Vorstellrunde gegenüber einem neuen Gruppenmitglied, bei der Carla mich aufhorchen lies, da sie eine Unterbrechung einer anderen Frau während ihres Statements klar und bestimmt zurückwies. Das kannte ich bislang nicht von ihr und weckte meine Neugierde. Nach der Vorstellrunde meldete sie sich gleich wieder zu Wort, was bisher selten vorkam und erzählte in schwerer, depressiver Tonlage wie sehr sie in der letzten Zeit unter der Depression litt. Die Stimmung in der Gruppe erlitt in Resonanz mit den geschilderten Emotionen eine Talfahrt, einige nickten ein und die Sitzpositionen verflachten sich. Eine andere Frau bemerkte, wie sehr sie das Erzählte runterziehe. Carla verteidigte sich, da sie „ja nichts tun könne und diesen Zuständen so hilflos ausgeliefert sei“. Ihr Gesichtsausdruck war schmerzverzerrt, somit warf ich ein „du siehst aus als würde Dich jemand würgen!“. Carla bestätigte dies und meinte auf meine Nachfrage hin, wer sie denn würge, dass dies das Schreckgespenst der Depression sei und dass sie das nicht mehr möchte. Ich warf mein Sitzkissen in die Mitte des Raumes und sagte, dass das Schreckgespenst ihr gegenüber sitze und dass sie sich diesem mitteilen solle. Erste Anläufe des Aufbegehrens waren recht zögerlich und nahezu freundlich. Aus der Gruppe ertönte ein aufstachelndes „da musst Du zumindest schimpfen!“. Carla wurde vehementer zuerst verbal und schließlich stand sie auf und schleuderte den Polster mehrfach auf den Boden. Sie war sehr erregt und zitterte am ganzen Körper. Die sich bis dahin im Dornröschenschlaf befindliche Gruppe erwachte und war sehr angetan von der Vehemenz und Kraft, die Carla zeigte, in der nichts von Depression sichtbar war. Anerkennende Feedbacks folgten. Diese Fallvignette abschließend ist es mir noch ein Anliegen zu betonen, dass Carla sich in der Gruppe und auch mir gegenüber sehr sicher und wertgeschätzt fühlt und dass ohne diesen tragenden sicheren Boden das ganze geschilderte Geschehen kaum denkbar ist. Was ich jetzt reflektieren möchte sind unterschiedliche Aspekte des „ad greddi“ der, wie sie auch genannt wird, positiven Aggression, die sich in dieser Sequenz sehr schön zeigen. Nach Stefan Blankertz ist „in der ursprünglichen Formulierung der Gestalttherapie die Aggression ein positiver Begriff für die Fähigkeit, die Umwelt an sich selbst anzupassen“. ... „sie beseitigt ein abgelehntes Objekt aus dem Organismus/Umweltfeld“... „(sie) zerstört eine überlebte Konstellation ... (die) sich in der aktuellen Situation als hinderlich erwies“. Zu allererst die Zurückweisung des Zwischenrufes bei der Vorstellrunde. Wichtig ist es mir festzuhalten, dass ich meine Gruppen zu solch „störenden“ Wortmeldungen ausdrücklich einlade, da sie die Lebendigkeit in der Gruppe steigern. Und es ist eben eine wesentliche Funktion der Aggression Grenzen aufzuzeigen, was Carla sehr effektiv gelang. Darin liegt aus meiner Sicht eine sehr wichtige bestätigende Erfahrung: Carla konnte mit entsprechender Tonlage, die Einmischung zurückweisen (ohne Unheil anzurichten, ohne destruktiv zu sein, was bei einer depressiven Thematik eine verbreitete Befürchtung ist). Das sich zu Wort melden sehe ich als wichtigen Lernaspekt der Gruppenarbeit: im Unterschied zur Luxussituation der Einzeltherapie herrscht in meinen Gruppen das Prinzip, dass man sich sein Stück vom Kuchen schon selbst holen muss. Sich Zeit, Raum und Aufmerksamkeit der anderen Gruppenmitglieder zu verschaffen verlangt des eigenen Einsatzes, was gerade für neue Gruppenmitglieder eine Hürde darstellt. Umgekehrt stellt das Bezwingen dieser Hürde eine sehr bedeutsame Lernerfahrung dar, die durch ihre Alltagsnähe gut ins „normale“ Leben mitgenommen werden kann und daher ein großes Plus der Gruppenarbeit darstellt. Diesen Aspekte verstehe ich als die ursprüngliche Bedeutung des „ad greddi“, des Zugreifen als Ausdruck des Verantwortung Übernehmens für einen selbst. Lotte Hartmann-Kottek versteht das „ad greddi“ als „die Kraft der Intentionalität“ ... „als ein zielgerichtetes wertfreies Herangehen an die Welt“, in unserem Fall den Mikrokosmos Gruppe. Und schließlich zur „Sesselarbeit“: Den von Carla erlebten Aggressor, das Schreckgespenst der Depression setzte ich symbolisch auf das Sitzkissen und ermöglichte somit Carla die Begegnung und Konfrontation mit diesem. Freilich fand dabei auch ein Stück Katharsis statt (Carla meinte zum Abschluss der Gruppe, dass noch viel Wut in ihr schlummere). Aus meiner Sicht scheint mir auch ein anderer Aspekt sehr wesentlich: aus der Opferrolle herauszutreten und sich mit Vehemenz für die aktive Verteidigung der eigenen Grenzen, des Privatraumes einzusetzen. Blankertz schreibt dazu sehr passend: „Zerstört werden keine Sachen, schon gar keine Personen, sondern sehr sublimiert, `Introjekte´. Ziel ist es, die Menschen bei ihrer Verwurzelung im Organismus/Umwelt-Feld zu stärken, damit sie dem Feuerwind widerstehen können,...“ Diese Sequenz kann sich freilich auch im Einzelsetting abspielen. Das Plus der Gruppe zeigt sich hier in der Zeugenschaft durch die anderen Gruppenmitglieder und im fokussierten Energiefeld das durch die Aufmerksamkeit der anderen Gruppenmitglieder entsteht. PS.: Dem Thema Aggression gebührt aus meiner Sicht ein eigener schulenübergreifender Blog - ich greife hier bewusst nur jene Aspekte heraus, die ich im Kontext des Themas Gruppe für relevant erachte. www.gruppentherapie.or.at |
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